„Gegen die Ansammlung verblödeter Vorurteile“

Gerald Futschers kompositorische Denkwelt

Der Komponist Gerald Futscher ist in Vorarlberg ein Begriff. Mit zahlreichen Werken, Projekten und Klanginstallationen hat er die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Freilich waren die Reaktionen auf seine Kompositionen nicht durchwegs positiv, umso mehr zeigen die komplex angelegten Werke eine originäre Gestaltungskraft und individuelle Qualitäten. Im vergangenen Jahr komponierte Futscher für ein Objekt des Künstlers Uwe Schloen die Musik. Sein neuestes Werk „Le bandage de peau“ wird Anfang Oktober im ORF uraufgeführt.

„Flüchtig hingemachte Männer… “ hat Gerald Futscher bereits für fünf verschiedene Besetzungen komponiert. Kontrabaß, Schlagzeug, Klaviertorso, Wasser und Tonband setzte er für die Beschallung des Bleiturm-Musikbunkers ein, der im vergangenen Jahr in Osnabrück gezeigt wurde und nun in der Nähe von Hannover steht. Außergewöhnliche Klangexperimente und -installationen charakterisieren viele Werke von Gerald Futscher, der mit seiner Familie in Götzis lebt. Anerkennung fand seine Installation in der Johanniterkirche in Feldkirch, wo er ein fahrradbetriebenes Wasserklavier präsentierte. In mehreren Kompositionen gibt es die Spielanweisung, mit dem Instrument unter Wasser zu spielen.

… Klangeffekte realistisch umsetzten …

Zum erstenmal setzte Gerald Futscher dieses Klangfarbenspiel in „Haarmann“ für Blechbläserquintett sowie in „Zeit oder Geld“ für Klarinette, Klavier, Harmonium und kleinen Männerchor ein. Dieses Werk wurde anläßlich des Symposiums „Laboratorium 98″ zur Zukunft der Arbeit in St. Gerold uraufgeführt. „Beim Symposium wird zwar viel über Arbeitslosigkeit geredet, aber weit und breit ist kein Arbeitsloser zu sehen. Deshalb wollte ich die Gelegenheit nutzen und Betroffene als Sänger einsetzen“, erzählt Gerald Futscher. Der Komponist war bestrebt, seine musikalischen Gedanken realistisch auf die Bühne zu bringen. „Was tut man mit einem Arbeitslosen?“ fragte sich Futscher nicht ohne zynischen Unterton. „Ein Arbeitsloser soll beschäftigt werden. Deshalb präparieren die Mitwirkenden das Klavier mit Fischerblei und Schraubzwingen und bedienen das Schlagwerk. Auch die große Trommel, das typische Revolutionsinstrument, wird geschlagen.“ Um die Isolation, in der sich viele arbeitslose Menschen befinden, aufzuzeigen, suchte der Komponist nach einem Mittel, mit dem er diese mühsame Lebenslage wirklichkeitsnah darstellen konnte. In gebeugter Demutshaltung, den Kopf unter Wasser, ausgerüstet mit Taucherbrille und Schnorchel sangen die Sänger ‚a‘ und ‚o‘. „Sie sollen isoliert sein und große Mühe haben, sich irgendwie verständlich zu machen. Deshalb war es naheliegend, daß die Sänger den Kopf unter Wasser haben“, erläutert Futscher, „auf diese Weise sind sie zwar präsent auf der Bühne, aber trotzdem isoliert. Der Gesang wird elektrisch verstärkt und über Lautsprecher wiedergegeben.“

… Fasziniert vom kontrapunktischen Satz …

Am 19. September erhält Norbert Mayer das Literaturstipendium des Landes Vorarlberg. Für den Festakt wurde an Gerald Futscher, der im Jahre 1998 das Komponistenstipendium des Landes zugesprochen bekam, ein Kompositionsauftrag vergeben. Aus dem fünften Madrigalbuch des Don Carlo Gesualdo, einem Zeitgenossen Monteverdis, der sich in der Melodiegestaltung in das Vorfeld der chromatischen Linienführung bewegte und emotionale Doppeldeutigkeiten lustvoll verarbeitete, wählte Gerald Futscher das Madrigal „Dolorosa gioia“ als Grundlage und Inspirationsquelle. „Ich habe das Madrigal, einen fünfstimmigen Chorsatz, zuerst für die Besetzung Klarinette, Viola und Harmonium bearbeitet. Dann habe ich die Musik als eine Art Inspirationsquelle verwendet. Ich verschiebe Teile und verwende meistens den gesamten fünfstimmigen Satz als wäre er der Cantus firmus meiner Musik“, erklärt Gerald Futscher.

… extravagante Persönlichkeiten in die Komposition einfließen lassen …

Gerald Futscher ist von Persönlichkeiten fasziniert, die einesteils durch ihre Genialität, andernteils durch eine oft nicht publik gemachte Geisteskrankheiten in die Annalen der Geschichte eingegangen sind. Die Wirkungsgeschichte der Schizophrenie, aufgezeigt anhand namhafter Vertreter und Gegner der Psychoanalyse mit den handelnden Personen Marquis de Sade, Daniel Gottlob Moritz Schreber, Sigmund Freud und sein Komplize sowie Gilles Deleuze hat Gerald Futscher näher ins Auge gefaßt, denn seit einiger Zeit arbeitet er an einzelnen Teilen für eine Oper. „Die Idee der Oper ist es, die Entwicklung der Psychoanalyse in Bezug auf die Behandlung der Schizophrenie aufzuzeigen. Die verschiedenen Handlungsstränge, die sich mit C.G. Jung, Sigmund Freud u.a. ergeben, werden bis zur modernen Psychologie dargestellt. Das wäre eine schöne Geschichte für mich, eine pseudowissenschaftliche Sicht der Psychoanalyse“, sinniert Gerald Futscher. Anläßlich des Kompositionsauftrages, den das Ensemble Plus für die „Loetkonzerte“ an Gerald Futscher vergab, beschäftigte er sich mit dem Marquis de Sade. Er war eine außergewöhnliche Persönlichkeit und verbrachte fast dreißig Jahre in Gefängnissen, seit 1803, die letzten elf Lebensjahre, wurde er in der Irrenanstalt von Charenton bei Paris verwahrt. Sade schrieb unzählige Theaterstücke, Erzählungen und Romane, die lange nur als psychopathologische Analyse der im Menschen schlummernden Lust und Grausamkeit abgetan wurden. Allerdings übte Sade mit seinem Atheismus, Egoismus, Erotismus sowie seiner Lehre von der absoluten Freiheit des Menschen und seiner Überzeugung von der Schlechtigkeit der menschlichen Natur einen großen Einfluß auf die moderne französische Literatur seit Charles Baudelaire aus.

… es gibt kein Entkommen …

Für Futschers neuestes Werk „Le bandage de peau“ war der letzte Satz, den Marquis de Sade in sein Tagebuch notierte, entscheidend: Am 30. November 1814 legte man mir ‚le bandage de peau‘ zum ersten Mal an. „Daß dieses Monster, das so außerordentlich viel geschrieben hat, genau diesen Satz als letzten schreibt, das finde ich wahnsinnig. Alles endet mit diesem jungfräulich hoffnungsvollen ‚pour la premiere fois‘. Dieses an den Anfang eines Stückes zu stellen, hat mich gereizt“, erklärt der Komponist. „Die Musik ist vom Singen her konzipiert. Theatralische Effekte sind klar erlebbar, beispielsweise rezitieren die MusikerInnen auch einzelne Satzfragmente. Das musikalische Hauptthema ist klar formuliert, es umkreist einen Ton, erst allmählich kommen größere Tonabständen zustande. Als Kontrapunkt wird die Linie beschleunigt, die einzelnen Tonlinien kreisen immer um das gleiche, sie entfernen sich kaum vom Zentralton und wenn, dann nur mühsam. Fugenartig wird das Thema durchgespielt, dann erklingt ein neues Motiv, man weiß jedoch nicht so recht, ob sich das erste Thema verändert hat oder ein neues erklingt, weil sich die Themen ständig ganz leicht und unmerklich verändern, bis sie dann woanders ankommen.“

… Tabus auch musikalisch brechen …

In das Werk „Le bandage de peau“ sind auch Überlegungen zu Tabubrüchen eingeflossen, die überdies Gerald Futschers Gedanken zur Gesellschaftspolitik maßgeblich prägen. Anregung fand er beim französische Schriftsteller und Soziologen Georges Bataille, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte. Unter anderem publizierte er eine Geschichte der Ökonomie. Seine Schrift ist auf einer Gesellschaftstheorie aufgebaut, nach der der handelnde Mensch durch die dialektische Einheit von Tabu und Übertretung bestimmt wird. Bataille postulierte drei Tabus der modernen Gesellschaft, das Heilige, die Sexualität und der Tod. Er meinte diese Themen seien deshalb tabu, weil sie dem Produktionsprozeß der modernen Industriegesellschaft widersprechen. „Ein Heiliger arbeitet nichts, er produziert nichts und ist deshalb wertlos für die Gesellschaft. Die freie, gelebte Sexualität widerspricht der Arbeitswelt, dieser neuen, sauberen Welt ebenfalls. Auch das Animalische will man ja immer mehr eliminieren. Der Tod ist klar, wer tot ist, ist nichts mehr wert“, erklärt Futscher, der diese drei Tabus in seinem neuesten Werk auch musikalisch verarbeitete.

… eine Frage der Erziehung und Bildung …

Selbstverständlich stößt Futschers Musik, die er einmal als bewegte und verschiedene Formen annehmende Klangmasse bezeichnete, auch auf Ablehnung. Dem Unverständnis vieler KonzertbesucherInnen gegenüber der zeitgenössischen Musik begegnet der Komponist pragmatisch. „Die Leute müssen nicht, wenn sie nicht wollen, und sie wollen nicht. Es ist nun einmal entschieden, daß die Bevölkerung viele Arten moderner Musik nicht hören und nicht sehen will. Unsere neue Regierung will ganz dezitiert die Neue Musik auch nicht“, stellt Futscher fest, der sich beim Diskutieren über das neue politische Klima in Österreich aus verständlichen Gründen aufregt. „Es klafft eine riesige Lücke zwischen den Arbeiten der Künstler und dem Verständnis der Bevölkerung, weil die moderne Kunst und Musik den Leuten vorenthalten wird. Es gibt ja keine Neue Musik mehr, beispielsweise in Ö1. Man kann niemandem erklären, baue bitte deine Vorurteile ab, denn das ist eine Frage der Erziehung und der Bildung. Viele haben keine Erziehung oder nur eine ‚vertrottelte‘, weil sie zu neunzig Prozent von der katholischen Kirche erzogen worden sind und werden und auch keine Bücher lesen. Mehr ist ja nicht da und den Rest erledigen die Medien. Sie sagen den Leuten, daß ein Künstler dann gut und erfolgreich ist, wenn er große Umsätze macht.“

Silvia Thurner