Expressive, erotische Ausdrucksformen frei baggern

Gerald Futscher setzt kompositorische Stilmittel unkonventionell ein

Der Komponist Gerald Futscher ist zur Zeit in der Vorarlberger Musikszene sehr präsent. Seine individuellen Ideen und die provokante Art seiner Musik stellen sowohl an MusikerInnen als auch an die ZuhörerInnen hohe Ansprüche. Viele Werke des in Götzis lebenden Komponisten repräsentieren eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten. Einen besonderen Ausdruck findet diese in Futschers neuestem Chorstück „tu baves, cochon, tu baves“ (Du sabberst, Schwein, du sabberst). Die Auftragskomposition wird anlässlich des Festivals „Poesie International“ vom Dornbirner Spielbodenchor uraufgeführt. Im Gespräch mit Silvia Thurner erzählt Gerald Futscher von seinen kompositorischen Grundgedanken und Vorgangsweisen.

Kultur: Du hast erzählt, dass dich kürzlich ein Bekannter fragte, wann du aufhörst Kunst zu machen und wieder Musik komponieren wirst. Was war deiner Meinung nach damit gemeint?

Damit war gemeint, dass meine Kompositionen keine Musik sind. Wahrscheinlich ist das so, weil sich meine Musik nicht auf eingeübte Wendungen bezieht. Es kann sein, dass moderne Musik von vielen so empfunden wird. In der traditionellen Musik gibt es viele Phrasen und kompositorische Gegebenheiten, die festgefahren sind. Wenn diese in einer Komposition nicht erklingen, wird die Musik großteils nicht verstanden. Zum Beispiel muss eine Melodie eine Begleitung haben, die Basslinie übernimmt dann die Funktion der Harmoniebildung. Ebenso verhält es sich mit dem Rhythmus, wenn sich dieser nicht auf einen Takt bezieht. Die Wiedererkennung spielt eine wesentliche Rolle, erst ein erkennbares Muster kann variiert werden. Wenn der Bezugsrahmen der traditionellen Musik nicht spürbar ist, gilt eine Komposition nicht als Musik. In meinen Werken sind eben diese Dinge anders definiert.

… zeitgenössische Musik ist nicht verkaufbar …

Kultur: Die abstrakte Malerei ist im Gegensatz zur zeitgenössischen Musik en vogue. Wie erklärst du dir das Missverhältnis in der Akzeptanz moderner Gemälde einerseits und in der Ablehnung zeitgenössischer Musik andererseits?

In der bildenden Kunst hat eine moderne Gesinnung dermaßen Fuß gefasst, dass jeder blamiert wäre, wenn er beispielsweise Andy Warhol nicht kennen würde. Selbst namhafte Komponisten, wie beispielsweise Wolfgang Rihm, sind aber den meisten unbekannt. Ich glaube, die Diskrepanz liegt an der Vermittlung. Ein bildender Künstler kann sein Kunstwerk fertig präsentieren, die Vermittlung einer Komposition durch die MusikerInnen ist jedoch ein langer Prozess mit vielen Schwachstellen. Das Kunstprodukt eines Komponisten ist im Grund nicht verkaufbar.

… mit Musik die Zeit abtöten …

Kultur: Was möchtest du mit deinen kompositorischen Arbeiten bezwecken? Ich möchte wie ein Düftehersteller etwas für den Gehörsinn machen, denn der Sinn des Ohres geht unter im Lärm unserer Umwelt. Von der kommerziellen Musik wird der Gehörsinn mit Füßen getreten. Unterhaltungssender bringen Musik zum „Zeitvertreib“, sie töten also die Zeit ab. Das Auge ist der Symbolträger für die Vernunft, über das Gehör werden tiefere Schichten angesprochen. Zum Beispiel sind viele gegenüber Bildern verhungernder Kinder abgestumpft, würden wir jedoch das Weinen dieser Kinder hören, würden wir emotional tiefer berührt. Auch in der Erotik geht viel über den Sehsinn, durch die Medien werden wir mit falschen Idealen von der ewigen Jugend überschwemmt. Darin sehe ich aber eine Reduktion, denn das eigentlich Erotische kommt über das Gehör zum Ausdruck.

… Atem- und Speichelgeräusche wirken sexy …

Kultur: Damit sind wir bei deinem aktuellen Chorstück „Du sabberst, Schwein, du sabberst“, in dem unterschiedlichste Lautäußerungen in Musik gefasst werden. Welche Überlegungen liegen diesem Werk zugrunde? Ich habe mir lange überlegt, was viele Popstars so erfolgreich macht. Die Musik ist irrsinnig doof und die Texte sind banal. Ich wollte erkennen, was die Leute an diesen Hits fasziniert, also habe ich in diese Musik hinein gehört und darauf geachtet, ob und wie Erotik vermittelt wird. Tatsächlich hört man viele Atem- und Speichelgeräusche. Das findet auf einer Ebene statt, die nicht bewusst wahrgenommen wird, man hört jedoch wie jung eine Sängerin ist und dadurch wirkt sie sexy. In den Aufnahmestudios sitzen wirkliche Profis, die genau wissen, was sie tun. Meine Beobachtungen stelle ich nun in einen anderen Zusammenhang und verarbeite die Wirkungsmöglichkeiten der Stimme. Bei sehr starken Emotionen ist die Stimme am ausdrucksstärksten. Ich gehe auf klangliche Aspekte ein, der musikalische Ausdruck von Emotionen soll freigelegt werden. Teilweise wird von den ChorsängerInnen in den Singanweisungen „lustvolles Stöhnen“ und „schmerzhaftes Jammern“ oder „ängstliches Weinen“ verlangt. Es ist auffallend, dass Frauen diesen emotionalen Ausdrucksformen viel offener gegenüber stehen als Männer.

… rein optisch ausgeführte Anweisungen wirken obszön …

Kultur: Die optischen Elemente der ausgefallenen Singanweisungen werden eine besondere Wirkung haben. In welcher Form stellst du diese in einen kompositorischen Zusammenhang? Stimmtechniken werden am Beginn tonlos vorgeführt, die Musik kommt erst im Lauf der Zeit dazu. Auf diese Weise passiert etwas Eigenartiges. Wenn zum Beispiel kein Ton zur Anweisung „Zunge durch die Lippen ein- und ausschnellen“ erklingt, entsteht ein ganz anderer symbolischer Gehalt. Ohne Ton wirkt diese Passage durchaus obszön, wenn jedoch ein Ton dazu gesungen wird, ist diese Wirkung nicht vorhanden. Das Stück ist sehr leise, besondere Klangwirkungen entstehen durch das Harmonium, außerdem werden Silikonschläuche in Wasserkübel geführt und Blechplatten bewirken metallische Klänge. Am Anfang stelle ich die meisten der Techniken vor, damit man das Vokabular kennenlernt, dann wird es immer farbenreicher unterteilt.

Kultur: Wie bist du auf den Titel „Du sabberst, Schwein, du sabberst“ gekommen?

Dieser Titel bezieht sich auf ein Fragment des Guillaume Apollinaire. Sein Buch „Die elftausend Ruten“ hat er anonym veröffentlicht. Darin werden Pornographisches und Gewalttätigkeiten mit sehr poetischen Stilmitteln verarbeitet. Ich verwende in meinem Werk die Sprachwerkzeuge – den Kehlkopf, die Stimme, die Zunge usw. -, die ein Poet auch kennt, aber in einem anderen Zusammenhang. In der Sprache und in der Kunstmusik wird nur ein ganz kleiner Teil unserer stimmlichen Vielfalt eingesetzt. Außerdem wäre dieses Werk, das Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurde, für Zeitgenossen als Parodie zu lesen gewesen. Darin hätte man damals führende Politiker und Journalisten erkennen können. Ein solches Werk mit politischen Vertretern unserer derzeitigen Regierung wäre ein absoluter Clou. Dieser Gedanke hat mich an diesem Buch gereizt, deshalb beziehe ich mich darauf.