Das Haut-Ich und die Tiefe in der Oberfläche

Julia Hanke und Gerald Futscher – Haut

Die Haut als wichtiges Sinnesorgan und als breit gefächertes Thema der Psychologie faszinierte seit jeher auch die KünstlerInnen. Mythen erzählen von Sinnbildern der Dünnhäutigen und der Gehäuteten und auch im Rahmen der zeitgenössischen Bildenden Kunst ist die Haut mit all ihren Verbindungslinien zu physiologischen, soziologischen und psychologischen Analogien ein bedeutendes und umfassendes Thema.

Arbeit mit Haut und Haaren

Vor fünf Jahren erhielt die deutsche Musikerin Julia Hanke von einem befreundeten bildenden Künstler ein abgespieltes Paukenfell als Geschenk. Von da an war sie fasziniert von den sinnlichen Reizen, die davon ausgehen. Als Musikerin interessierte sie sich zuerst für die klingenden Aspekte, die ihr das Paukenfell zu bieten hatte. „Bald darauf habe ich Gefallen an der Idee gefunden, einen kleinen Raum zu schaffen, in dem man ganz von der gespannten Haut umgeben ist, die sowohl akustisch als auch optisch sensible Reize aufnimmt“, erzählt sie von ihrer ersten Auseinandersetzung mit der Haut. Sie schuf auf Spannrahmen gefasste Hautbilder aus Kalbs-, Ziegen- oder Kuhleder und beschäftigte sich mit den „Spuren von Vorausgegangenem, zum Beispiel Verletzungen des Tieres oder Spuren der darauf gespielten Musik.“ Doch dabei blieb es nicht und sie wirkte aktiv auf das ihr vorliegende Material ein. „Spuren hinterlasse ich, mit Haaren stickend, immer die bereits vorhandenen mit einbeziehend. Meist schön zu sehen ist immer noch das Rückgrat auf der Haut des Tieres“, erklärt Julia Hanke ihre Arbeitsweise und Intentionen. „Umständlich könnte man die Bilder auch Materialklangbilder nennen. Die Arbeit mit der Haut und den Haaren birgt viel Unvorhersehbares und fordert Beweglichkeit. Außerdem ist die Möglichkeit gedanklicher Assoziationen vielfältig. Dieses und auch die nicht zu verleugnende Ästhetik des Materials reizt mich, etwas daraus zu machen.“

Hautobjekt und Musikperformance

Nachdem Andreas Ticozzi, künstlerischer Leiter des „ensemble plus“ Julia Hanke als Musikpartnerin kennen gelernt und sie ihm von ihren Hautobjekten erzählt hatte, stellte er die Verbindung zum Komponisten Gerald Futscher her. Denn zweifellos ist er einer der kreativsten Köpfe, die Vorarlberg derzeit zu bieten hat. Diese Bekanntschaft ermöglicht nun eine spektakuläre Performance, in der sich die Haut und Hautobjekte und Musik in vielfältigen Formen begegnen, widerspiegeln, durchdringen, ergänzen und Analogien bilden.

Gerald Futscher konzipiert seine musikalischen Kunstwerke nie bevor er sich nicht einen theoretischen Unterbau für seine Musik überlegt hat. So begann er seine Recherche und entdeckte alsbald den Psychoanalytiker Didier Anzieu, der mit seinem Werk „Das Haut-Ich“ den wichtigsten Beitrag geliefert hat und auf den sich sehr viele KünstlerInnen in der Auseinandersetzung mit dieser Thematik beziehen.

Haut-Ich und Klangwelt

Didier Anzieu war ein französischer Psychoanalytiker (1923-1999). Er beschreibt, ausgehend von Sigmund Freud, die Persönlichkeitsentwicklung und die Selbsterfahrung des Menschen durch Berührungen und Hautkontakte des Kindes mit seiner Mutter. In seinem Hauptwerk „Das Haut-Ich“ zeigt er anhand neun Kategorien die physiologischen und psychischen Funktionen und mögliche Fehlentwicklungen auf. Diese neun Kategorien und die dazugehörigen Funktionen der Haut bieten nun die Ausgangspunkte und Inspirationsquellen für Gerald Futschers musikalische Auseinandersetzung mit der Haut.

Für die Performance auf der Bühne des Kornmarkttheaters fertigt Julia Hanke einen großen Haut-Kubus an, der als zentrales Element das Geschehen bestimmt. Dazu spielt das „ensemble plus“ in der eigentümlichen Besetzung mit Violine, Viola, Kontrabass, (Bass)Klarinette und Posaune eine komplex angelegte Musik, die ergänzt wird von einer Sopranistin, die die einbezogenen Texte singen wird. Darüber hinaus ergänzen viele Klangkörper, Klangmaschinen und Geräuschapparaturen das musikalische Geschehen, für das vielgestaltige Querverbindungen aufgestellt werden. „Mir gefällt die Einteilung von Anzieu in die Funktionen der Haut und die Zuordnung zu psychischen Prozessen“, erklärt Gerald Futscher. „Seine These lautet vereinfacht. Das was bei Freud das Ich im Verhältnis zum Unbewussten darstellt, ist bei Anzieu die Haut zum restlichen Körper. Wie auf dem Ich wird alles darunter Brodelnde abgebildet und überhaupt wird auf der Haut alles abgebildet, was im ganzen Menschen und in der Psyche passiert. Beginnend mit der Stützfunktion der Haut möchte ich eine Klangfläche erzeugen, mit der klar werden soll, dass ‚Haut‘ ein besonderes Stück Musik wird. Die Sängerin befindet sich im Hautkubus. Sie soll sichtbar sein und sich in Form einer Geburtsszene heraus schälen“, erläutert der Komponist seine Vorstellungen.

Der Körper einer Geige

Sechs Szenen hat Gerald Futscher auskomponiert und ihnen Texte zugrunde gelegt, die ihn seit Jahren begleiten. Mit unterschiedlichen Klangmaschinen werden die Funktionen der Haut und ihre Verletzbarkeit versinnbildlicht. Beispielsweise kommen viele unterschiedliche Bohrer zum Einsatz, wenn die Haut und ihre Behälterfunktion dargestellt werden. Eine Geige steht als Synonym für den menschlichen Körper. Mit ihr werden die theoretischen Ausführungen auf eine sinnlich fassbare Ebene transformiert. Weiters verdeutlichen Wasserbottiche und aufgeblasene Ballone, die gerieben werden, das Verhältnis zwischen Innen und Außen und die Reizschutzfunktion der Haut. Dabei soll die Vorstellung „von sich selbst als Krustentier in einer geschützten Hülle oder als nach außen gerichtete Krake erfahrbar werden“, so Gerald Futscher.

Schizophrenie und Haut

Mit der „Individuationsfunktion“ der Haut beschreibt Anzieu die Haut als Membran, die einesteils die Möglichkeit für einen Zutritt schafft, andernteils aber auch verweigert. Hier stellt Gerald Futscher eine Verbindung zum berühmten Daniel Paul Schreber her, der mit seinem Buch „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ (1903) viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat. „Schreber hatte das Problem, dass göttliche Wellen ständig in ihn eindringen. Deshalb rennt er nackig im Garten herum, damit Gott in ihn eindringen und Schreber dabei höchste Wolllust empfinden kann. Ein hohes, wuselndes und flirrendes Klanggebilde wird die Strahlenebene symbolisieren“, beschreibt der Komponist weiter und gibt mit einem Zitat Einblick in die Welt des Daniel Paul Schreber, der in seinem Tagebuch in der Nervenheilanstalt notierte. „Man setzte mir zu jener Zeit zum wiederholten Male Skorpione in den Kopf, winzige Krebse und spinnenartige Gebilde, die in meinem Kopf irgendwelche Zerstörungsarbeit verrichten sollten. Dieselben hatten Seelencharakter, sie sind sprechende Wesen. Man unterschied sie nach der Stelle, von der sie ausgegangen waren, arische und katholische Skorpione. Die ersteren waren etwas größer und kräftiger. Diese Skorpione zogen sich aber regelmäßig aus meinem Kopf wieder heraus, ohne mir Schaden zu tun, als sie die Reinheit meiner Nerven und die Heiligkeit meiner Gesinnung wahrnahmen.“

Eine Herausforderung

Die vielfältigen gedanklichen Verbindungen, die die Musikperformance ermöglicht, lassen sich nur ansatzweise fassen, denn viel Raum bleibt für die Assoziationen jedes Einzelnen. Deshalb wird dieses Projekt wohl eines der spannendsten, das in diesem Frühjahr in Vorarlberg geboten wird. Gleichzeitig bleibt eine Irritation der Sinne wohl kaum aus, wenn man die Komplexität der künstlerischen Querbezüge auf sich wirken lässt.

Silvia Thurner

In: Kultur. Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft. April 2009.